Warum berühren uns Verbrechen unterschiedlich stark?

Das Leiden der Anderen

Es gibt Verbrechen, die ein ganzes Land bewegen, wochenlang. Andere
Verbrechen finden kaum Aufmerksamkeit, obwohl sie nicht weniger schlimm sind. Wie kann das sein? Warum berühren uns manche Taten mehr als andere? Und was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

Foto: Marcel Kusch/dpa

In Dortmund gibt es einen Boulevardjournalisten, er liefert Fernsehbeiträge aus dem gesamten Ruhrgebiet. Wenn irgendwo etwas passiert, ein Gewaltverbrechen zum Beispiel, dann schickt er Leute mit der Kamera raus.

Vorher aber schaut er, wer die Opfer sind: Welche Nationalität haben sie? Der Journalist ist ein alter Hase im Nachrichtengeschäft, er weiß: Geht es um Gewalt unter Ausländern, Türken etwa, interessiert das seine Abnehmer nicht. Weil es deren Kunden vor den Fernsehgeräten nicht interessiert. Es ist ihnen zu fremd, zu weit weg, unverständlich. Sie schalten dann um. Das sei ein Gesetz des Marktes, sagt der Boulevardjournalist, dagegen könne er nichts machen. Er schickt dann in der Regel keine Leute raus.

Ein Verbrechen aber ist ein Verbrechen, ob es einen Deutschen trifft oder einen Türken, es ist immer gleich schlimm. Wenn es also stimmt, was der geschäftstüchtige Boulevardjournalist sagt, wenn Gewalt unter Deutschen eine Nachricht ist, Gewalt unter Ausländern hingegen weniger – was stimmt dann nicht mit dem Markt, mit den Fernsehzuschauern, mit unserer Gesellschaft? Warum berühren uns die einen Verbrechen, die anderen aber nicht?

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01 Unterm Radar

Knapp 40 Journalisten und Zuschauer hätten an diesem Apriltag im Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts Dresden Platz, gekommen ist knapp die Hälfte. Kaum 20 Menschen, abgeschirmt hinter Glaswänden, schauen auf Bildschirme, dort ist Oliver L. zu sehen, ein 54-jähriger Lohnbuchhalter, zugeschaltet aus Köln. Oliver L. ist nicht nach Dresden gekommen an diesem Tag, er muss sich nicht noch einmal in der Stadt aufhalten, in der er im Oktober 2020 eine Messerattacke nur knapp überlebte. In der er seinen langjährigen Lebensgefährten Thomas L. durch die Messerstiche verlor. In der er im Gerichtssaal dem Täter erneut begegnet wäre. Einem Islamisten, der auf Oliver L. und seinen Lebensgefährten einstach, weil er sie als homosexuelles Paar identifiziert hatte.

Ein islamistischer Anschlag in der Dresdner Altstadt: Medien berichteten, stellten Fragen, die rechten Twitter- und Telegram-Blasen glühten. Aber nur kurz. Je sichtbarer das Motiv Homophobie wurde, desto unsichtbarer wurde die Empörung. Ein halbes Jahr nach der Tat läuft der Prozess in Dresden weitgehend unterm öffentlichen Radar.

Im Journalismus spricht man von sogenannten Nachrichtenfaktoren, die darüber entscheiden, ob eine Nachricht als interessant empfunden wird oder nicht. Einer der wichtigsten Nachrichtenfaktoren ist die Nähe. Ein Mord in der Nachbarschaft wühlt Menschen mehr auf als ein Mord am anderen Ende der Stadt. Ein Mord am anderen Ende der eigenen Stadt mehr als ein Mord in einer fremden Stadt. Ein Mord in Deutschland mehr als einer in der Türkei.

Aber Nähe ist nicht allein eine geografische Kategorie, Nähe kann auch politisch sein oder kulturell. Ein Mord in den USA ist den meisten Deutschen näher als einer in Ägypten, obwohl Ägypten geografisch weniger weit entfernt liegt. Ein Brand in einer christlichen Kirche bewegt sie mehr als einer in einer Moschee. Der Boulevardjournalist würde vielleicht sagen: Armin ist meinen Zuschauern näher als Achmed. Und womöglich ist den meisten Fernsehzuschauern und Zeitungslesern ein heterosexuelles Paar näher als ein homosexuelles.

Es gibt Gewalttaten, die bewegen ein ganzes Land. Der Mord an der 14-jährigen Susanna 2018 in Wiesbaden (Hessen) war so ein Fall, vergewaltigt und getötet von einem Asylbewerber. Oder der Mord an der 15-jährigen Mia 2017 in Kandel (Rheinland-Pfalz), getötet von einem Flüchtling; monatelang nahm eine breite Öffentlichkeit Anteil. Der Mord an der 19-jährigen Maria 2016 in Freiburg, vergewaltigt und getötet ebenfalls von einem Flüchtling.

Andere Gewalttaten bewegen die Öffentlichkeit anders oder gar nicht. Als im April 2021 eine Mitarbeiterin in einer Potsdamer Pflegeeinrichtung vier Menschen mit Behinderung tötet und eine weitere Bewohnerin schwer verletzt, fokussiert sich die öffentliche Diskussion schnell auf die mutmaßliche Täterin und ihr Motiv. Tötete sie vielleicht aus Mitleid? Wollte sie schwer kranke Menschen erlösen? War sie überfordert mit der schweren Arbeit? Oder einfach nur psychisch krank?

Der Vorstand der Wohneinrichtung muss in Zeitungsinterviews Stellung beziehen zu Pflegeschlüssel, Personalstand, Sicherheitssystemen. Die Frage, wer die Opfer waren und wie sie lebten vor ihrem gewaltsamen Tod, spielt in der Berichterstattung kaum eine Rolle. Als im Februar 2020 ein 43-jähriger Deutscher im hessischen Hanau zunächst neun Menschen mit Migrationshintergrund erschießt und anschließend seine Mutter und sich selbst, herrscht nach erster Aufregung und Terrorangst eher öffentliche Ratlosigkeit als öffentliches Mitgefühl. Deutschland rutscht in die Corona-Pandemie, erst zum Jahrestag rückten Medien die Opfer verstärkt in den Mittelpunkt. Ihre Namen kennt bis heute kaum einer, sie klingen fremd und sind schwer zu merken.

Auch in Dresden wird es schnell still nach der Tat.

Im Gerichtssaal herrscht Stille, als Oliver L. tief durchatmet und zu schildern beginnt, was an jenem Abend in der Rosmaringasse genau geschah – ganz in der Nähe des Dresdner Neumarkts und der berühmten Frauenkirche. „Wir sind einen Tag vorher angereist“, sagt L. und erzählt, dass er und sein Partner in Sachsen Urlaub machten. Anders als am Anreisetag sei der Neumarkt geradezu „menschenleer“ gewesen. „Merkwürdig“ habe er das gefunden. Schließlich war es ein Samstagabend. Sie hätten etwas gegessen, ein Glas Wein getrunken und seien dann vom Neumarkt in die Rosmaringasse eingebogen. L. stockt, kurz ringt er um Fassung. Als er und Thomas L. die Gasse hinunterliefen, habe ihnen plötzlich jemand von hinten auf den Rücken geschlagen. Jedenfalls habe es sich angefühlt wie ein Schlag. Sie hätten sich beide gleichzeitig umgedreht. Es war aber kein Schlag. Ein Mann hatte mit Küchenmessern von hinten auf sie eingestochen.

Oliver L. hat ein freundliches Gesicht, aber jetzt verzieht es sich vor Schmerz. „Ich habe immer wieder um Hilfe gerufen und gedacht: Warum kommt denn keiner?“ Er habe direkt in eine Bar schauen können, es ist die Bar „Alex Dresden am Schloss“. An die nächsten Momente könne er sich nicht mehr erinnern. Der Richter hakt nach, er will sichergehen, dass L. nichts mehr weiß. Oliver L. blickt gequält. Er schnieft, räuspert sich. Energisch schüttelt er den Kopf. „Nein“, sagt er, „als wäre ich eine Zeit lang nicht da gewesen.“ Erst als drei Helfer aufgetaucht seien, setzte seine Erinnerung wieder ein. „Ich lag auf dem Boden, eine Frau half mir“, sagt er. Er habe Thomas liegen gesehen und immer wieder gefragt, wie es ihm geht. Auch erinnert er sich, mehrmals gesagt zu haben: „Ich bekomme so wenig Luft, ich bekomme keine Luft.“

Ich bekomme keine Luft. I can’t breathe.

02 Am Kipppunkt

In Bloomington, USA, lehrt an der Indiana University Indiana seit 25 Jahren ein deutscher Wissenschaftler: Fritz Breithaupt, geboren 1967 in Baden-Württemberg, Brille, breites Lachen, auch mit Mitte 50 noch ein studentischer Typ. Im Mai 2020 hielt er eine Intensivvorlesung an der Uni, 250 Studentinnen und Studenten nahmen teil. Dann starb George Floyd, getötet durch einen Polizisten in Minneapolis, USA, und eine Reihe Studierender erklärte Breithaupt, sie könnten vorerst nicht mehr zu seiner Vorlesung kommen.
Sie wollten stattdessen an den „Black Lives Matter“-Demonstrationen teilnehmen. In den USA, aber auch in Deutschland und in anderen Staaten, gingen Menschen auf die Straßen, sie trugen T-Shirts und Transparente mit dem Satz, den Floyd in den letzten Minuten seines Lebens mehr als 20-mal gesagt hatte: „I can’t breathe“.

Breithaupt hat sich einen Namen gemacht als Forscher zum Thema „Empathie“. Das ist ein Begriff, der helfen kann, wenn man Antworten sucht auf Fragen wie diese: Warum fühlen Menschen nach Gewalttaten einmal mehr mit und einmal weniger? Braucht eine funktionierende Zivilgesellschaft nicht Mitgefühl für alle? Wie lässt sich das erreichen? „Empathie“, sagt Breithaupt, „ist Teil der Lösung. Aber Empathie ist auch Teil des Problems.“

Erinnerung an George Floyd, ermordet durch einen Polizisten ∙ Foto: F. Muhammad/Pixabay
Erinnerung an George Floyd, ermordet durch einen Polizisten ∙ Foto: F. Muhammad/Pixabay

Da liegt jemand auf dem Boden, ein Polizist hat ihn niedergerungen, er kniet nun auf dem Nacken des Liegenden. I can’t breathe, ich kann nicht atmen, bettelt der Mann am Boden immer wieder. Wer die Szene beobachtet, zum Beispiel im Internet, das Video wurde millionenfach geteilt, empfindet Empathie. „Aber“, sagt Breithaupt, „die Frage ist doch: Aus welcher Position nehme ich das wahr?“ Empfinde ich die Todesangst von George Floyd am Boden nach? Empfinde ich eher die Hilflosigkeit des Beobachters, der helfen möchte, aber nicht kann? Oder kann ich vielleicht sogar den Polizisten verstehen, der einen möglicherweise gefährlichen Vorbestraften niederringt?

Es gibt Experimente, die das vermutete Schmerzempfinden von Fremden abfragen. Die Teilnehmer sehen eine Hand, in die hineingestochen wird, mal etwas stärker, mal leichter, und sie sollen sagen, wie stark wohl der Schmerz ist, den der Mensch hinter der Hand empfindet. Wenn die Hand schwarz ist, gehen die meisten Teilnehmer davon aus, dass der Schmerz nicht so stark ist.

In Hanau sterben neun Menschen mit Migrationshintergrund in und vor Shisha-Bars. Vermutlich sind vielen Fernsehzuschauern, die zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen die Fernsehbeiträge des Dortmunder Boulevardjournalisten sehen, Shisha-Bars fremd. Vermutlich sind ihnen auch die Namen der Toten fremd, ihre Leben sowieso. Vielleicht haben sie Vorurteile: Diese Menschen mit den fremden Namen sind doch Gewalt gewöhnt, sie sind womöglich selbst kriminell, wer weiß das schon, sie bleiben doch sowieso meistens unter sich. So war es nach der Mordserie der rechtextremen Terrorgruppe NSU, bei der neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin starben. Öffentlichkeit und Polizei gingen jahrelang davon aus, dass die Täter aus dem Umfeld der Opfer kommen müssten. Es gab den Begriff der „Döner-Morde“, die Polizei ermittelte, ob die Opfer in kriminelle Machenschaften verwickelt waren, die die Taten erklären könnten. Die Leben der Opfer von Hanau mögen vielen Menschen in Deutschland fremd sein. Mit dem Leben des Täters, eines 43-jährigen Deutschen aus der Stadt, haben sie möglicherweise deutlich mehr Gemeinsamkeiten.

Täter-Opfer-Geschichten sind die stärksten Erzählungen, die es gibt. „In dem Moment, in dem es zu Polarisierungen kommt, neigen die meisten Menschen dazu, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen“, sagt Professor Breithaupt. Medien böten den Menschen dabei eine Perspektive an. Aber es gebe eben auch Opfer-Geschichten, die medial nicht so gut funktionieren. War es so in Hanau? Wenn Fernsehzuschauer sagen: Ich gehe nicht Shisha-Bars, ich kenne die nicht, das hätte nicht ich sein können, der da sitzt und eine Wasserpfeife raucht. Wenn ihnen aber vielleicht die Gedanken des Täters bekannt vorkommen: Ausländer überrennen dieses Land, rotten sich zusammen, bedrohen unser vertrautes Leben. Das muss nicht bedeuten, dass diese Fernsehzuschauer die Mordtaten weniger verabscheuenswürdig finden oder gar gutheißen. Es kann aber bedeuten, dass sie die Tat weniger berührt.

Aber warum konnte das Sterben von George Floyd zu einem Kipppunkt werden? Der Tod eines vorbestraften Schwarzen in den USA? Fritz Breithaupt glaubt erstens: weil es zu viele solcher Momente waren. Wieder ein toter Schwarzer, wieder getötet von einem weißen Polizisten, es reicht. Vor allem aber glaubt Breithaupt zweitens an die Macht der Medien. Der Tod von Floyd war sofort online, weltweit zu sehen in den sozialen Medien, nachzuschauen im Fernsehen, nachzulesen in der Presse. Breithaupt hält die Bilder aus Minneapolis für einen der drei stärksten Medienmomente der vergangenen 20 Jahre. Die anderen beiden Momente waren die Live-Bilder vom Fall der Türme des World Trade Centers nach dem Terroranschlag 2001 und das Foto des Flüchtlingsjungen Alan Kurdi, der 2015 tot am türkischen Mittelmeerstrand lag, als ob er schliefe. 2020 gab es dann die Bilder des großen, muskulösen George Floyd, der weinte und um sein Leben bettelte. Auf seinem Nacken kniete derweil der Polizist. Das Video ließ die Welt unmittelbar dabei sein.

Mit diesem Graffiti wird in Frankfurt der neun ermordeten Menschen aus Hanau gedacht. (AP Photo/Michael Probst)

Im Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts in Dresden im April 2021 will der Richter wissen, ob sich das Paar an den Händen hielt. Liefen Sie eng nebeneinander? Wer ging links, wer rechts? „Ich war auf der rechten Seite. Wir gingen nebeneinander. Ich würde ausschließen, dass wir Hände gehalten haben … das machen wir eigentlich nie … aber ich weiß es nicht“, sagt Oliver L. „Ich denke, wir gingen normal nebeneinander her.“ Noch einmal schildert er seine Erinnerungen. Er habe einen Schlag auf den Rücken gespürt, als ob jemand ihn im fernen Dresden erkannt habe.

Ich bin zu Boden gesunken“, sagt Oliver L. Thomas L. habe auf der Seite gelegen. Seltsam sei gewesen, dass er auf einmal mehrere Meter weit entfernt gelegen habe. Immer wieder habe er im Krankenwagen und in der Vernehmung nach ihm gefragt. Erst am nächsten Tag nach der Vernehmung hätten ihm „sechs, sieben, acht Ärzte“ dann gesagt, was mit Thomas L. passiert ist. Er war verstorben. Aus dem Leben gerissen. Zu schwer waren die Verletzungen. Siebeneinhalb Jahre waren Oliver L. und Thomas L. ein Paar.

Auch Oliver L. hatte schwere Verletzungen. 42 Tage war er krankgeschrieben, erzählt er. Seitdem arbeite er wieder. „Weil es hilft.“ Die körperlichen Schäden seien verheilt, nur die Stellen, in die der Täter stach, fühlten sich taub an. „Die Ärzte und Pflegekräfte waren unglaublich“, sagt er. Die hätten sich eingesetzt, seien toll gewesen. „Sonst wäre das nicht wieder geheilt.“

Der Staatsanwalt wendet sich L. zu: „Darf ich Sie fragen, wie es Ihnen seelisch geht?“ L. blickt nach unten, wieder atmet er tief durch. „Es fällt schwer, die Trauerbewältigung“, sagt er. „Die Arbeit hilft. Wenn ich abgelenkt bin, dann geht’s. Aber ansonsten…“ Er bricht den Satz ab.

03 Im Dunkeln

Im Thusnelda-von-Saldern-Haus in Potsdam sterben am 28. April 2021 vier Menschen: Martina W., 31 Jahre alt, Christian S., 35 Jahre alt, Lucille H., 42 Jahre alt, und Andreas K., 56 Jahre alt. Eine weitere Bewohnerin wird schwer verletzt. Insgesamt leben rund 60 Menschen in der Einrichtung, in der Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen betreut werden. Viel mehr erfährt die Öffentlichkeit nicht über die Opfer. Medien beschäftigen sich lieber mit der mutmaßlichen Täterin und forschen nach ihren möglichen Motiven.

Professor Dr. Karl H. Beine, 70 Jahre alt, ist Deutschlands führender Experte für das Thema Patiententötungen. Er beschäftigt sich damit, seit es an einer Klinik, an der er zu Beginn seiner Ausbildung gearbeitet hatte, zu solchen Taten gekommen war. Bis 2019 leitete er die Klinik für Psychiatrie im St.-Marien-Hospital in Hamm, Westfalen, und lehrte an der Universität Witten/Herdecke. Wenn man Beine fragt, warum die Opfer von Potsdam in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle spielen und ob es uns womöglich an Empathie fehle, wird er regelrecht zornig, seine Stimme wird hart.

„Empathie?“, fragt er. „Die Leute, die über solch einen Fall berichten, haben selten Berührung zu diesen Menschen: mehrfach behindert, pflegebedürftig, hilfsbedürftig. Sie wissen nichts über sie. Ohne persönliche Erfahrung unterstellen sie: So würde ich nicht leben wollen. Da wäre ich lieber tot.“ Für Beine ist es ein bekanntes Muster, dass nach Tötungen von schwer kranken oder behinderten Menschen schnell über Erlösung oder Mitleid als Tatmotiv diskutiert wird.

Er nennt ein aktuelles Beispiel aus seinem Bundesland Nordrhein-Westfalen: In Essen wurde jüngst ein Arzt angeklagt, er soll Krankenhauspatienten mit Absicht tödliche Medikamente gegeben zu haben. Die örtliche Zeitung überschrieb ihren Bericht mit der Zeile: „Sterbehilfe für Corona-Patienten?“ Wenn Empathie die Fähigkeit meint, sich in einen anderen Menschen hineinzufühlen und hineinzudenken, dann bringt die Öffentlichkeit viel eher Verständnis für den Arzt und seine schwierigen Arbeitsbedingungen auf. „Die Meinung überwiegt, wenn ich als Patient selbst in einer solchen Situation wäre, dann würde ich das auch so wollen, das ist doch kein Leben. Mit den Opfern beschäftigt man sich lieber nicht so genau“, sagt Beine. Aber er lässt keinen Zweifel: Solche „Helfer“ töten Menschen nicht aus Mitleid, allenfalls aus Mitleid mit sich selbst.

Stilles Gedenken: Steffen Helbing vom Deutschen Gehörlosen- Bund und seine Frau Gerlinde trauern um die in Potsdam getöteten Menschen mit Behinderung. Foto: Michele Tantussi/Reuters/p-a Butzmann
Stilles Gedenken: Steffen Helbing vom Deutschen Gehörlosen- Bund und seine Frau Gerlinde trauern um die in Potsdam getöteten Menschen mit Behinderung. Foto: Michele Tantussi/Reuters/p-a Butzmann

Beine ärgert dieser Perspektivwechsel schon lange. Bereits 2007 kritisierte er in einem Fachaufsatz für das „Deutsche Ärzteblatt“ eine „Spiegel“-Reportage zum Prozess gegen den Krankenpfleger Stephan L., der 2003/04 in der Klinik Sonthofen 29 Patienten mit Giftspritzen tötete. Beine sah darin „Vorurteile über die angeblich so seelenlosen Reparaturwerkstätten im Gesundheitswesen bedient“, er zitierte: „Menschen werden da ,zwecks Mobilisierung auf Nachtstühle verfrachtet‘, ,Nahrung in sie hineingestopft, die sie nicht mehr schlucken konnten oder wollten‘. Über Stephan L. heißt es in dem Artikel: ,Wäre er kaltschnäuziger gewesen oder abgestumpft oder weniger empathiefähig, hätte er die Taten vermutlich nicht begangen.‘“ Beine schreibt: „Auslöser und Schuldige sind so schnell gefunden: Ein inhumaner Medizinbetrieb und abgestumpfte, kaltschnäuzige oder verrohte Vorgesetzte, die die Not des neuen Kollegen ignorieren: So wird der Täter zum Opfer.“

Wer Mitgefühl wecken will für Opfer wie Martina W., Christian S., Lucille H. und Andreas K. in Potsdam, muss sie aus dem Dunkeln ins Helle holen – und darf nicht die Täter strahlen lassen.

04 Bei den Anderen

„Die dunklen Seiten der Empathie“, so hat Professor Fritz Breithaupt sein jüngstes Buch überschrieben. Darin beschreibt er, dass sich die Identifikation mit der vermeintlichen Opferseite steigern kann zu Hass und Hetze, sogar zu Gewalt. „Wenn die eigene Seite als Opfer gesehen wird, ist die andere Seite natürlich Täter“, sagt Breithaupt. Er erkennt darin einen wesentlichen Auslöser für Terrorismus, aber auch für Gewalttaten überhaupt.

Noch etwas kommt erschwerend hinzu. Wenn ein Deutscher in Hanau „Ausländer“ tötet, ein Islamist in Dresden Homosexuelle angreift, wenn eine Pflegerin Hilfsbedürftige von ihrem vermeintlichen Leiden erlösen will, dann scheint sich diese Tat nicht gegen Menschen zu richten, sondern gegen Gruppen, gegen ihre Repräsentanten, vielleicht sogar gegen Symbole. Das lässt die Interpretation zu: Ich bin gar nicht betroffen, ich bin gar nicht gemeint. Weil ich kein Ausländer bin, kein Homosexueller, kein Pflegebedürftiger. Eine zweite Interpretation könnte sogar sein: Die sind mitschuldig an der Tat. Weil sie Ausländer sind, weil sie homosexuell sind, weil sie nicht der vermeintlichen Norm entsprechen. Auch deshalb sinkt der Nachrichtenwert einer solchen Gewalttat: Es geht ja um Andere.

Wie lassen sich diese Anderen ins Helle ziehen? Breithaupt sieht vor allem den Journalismus in der Pflicht, er müsse „mediale Hilfestellung“ leisten. „Journalisten müssen die Geschichten von viel mehr Menschen erzählen“, sagt er.

Dr. Tanjev Schultz, 47 Jahre alt, ist ein erfolgreicher Journalist, er recherchierte intensiv zur Plagiatsaffäre Guttenberg und zu den NSU-Morden, er wurde mit dem renommierten Nannen-Preis ausgezeichnet. Seit 2016 lehrt er als Professor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und forscht über Journalismus. Er sieht gleich mehrere Gründe dafür, warum bestimmte Opfergruppen häufig im Dunkeln bleiben:

  1. Für viele Medien sind bestimmte Gruppen keine Zielgruppe. Die Abnehmer der Bilder des Dortmunder Boulevardjournalisten gehen offenbar davon aus, dass Türken nicht zu ihren Zuschauern gehören.
  2. Der Journalismus ist nicht sonderlich divers, zu vielen Gruppen fehlen den Redaktionen die Zugänge. Das galt für die Familien der Opfer des NSU oder in Hanau, das gilt für die Opfer in Potsdam.
  3. Wo kein Zugang ist, fehlt es an unverzichtbarem Material für eine Veröffentlichung: Fotos, Filmaufnahmen, O-Töne.
  4. Medien stehen zunehmend unter wirtschaftlichem Druck, sie müssen ihre redaktionellen Ressourcen ökonomisch einteilen. Aufwändige Recherchen, etwa weil es an schnellen Zugängen fehlt, fallen als Erstes hinten runter.
  5. Wenn Minderheiten von Gewalttaten betroffen sind, fehlt oft der öffentliche Druck, der Aufmerksamkeit auf den Fall zieht und dadurch Berichterstattung erzwingt: laute Interessengruppen, starke Anwälte, fordernde Opferschutzverbände. Schultz spricht von „Pressure-Groups“.

„Empathie“, sagt Tanjev Schultz, „hat mit Nähe zu tun, mit Vertrautheit.“ Auch er sieht den Journalismus in der Pflicht, Vertrautheit über Geschichten herzustellen. Geschichten, die das Opfer in Hanau nicht als Ausländer oder Mann mit Migrationshintergrund schildern, sondern beispielsweise als Vater, der vielleicht Geldsorgen hatte, der wegen Corona in Kurzarbeit war und um seinen Hauskredit bangte, der sich über das Abitur seiner Tochter freute, der glühender Fußballfan von Eintracht Frankfurt war. Aber Schultz ahnt auch, dass Journalismus allein nicht genügen wird: Erst wenn Migranten, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung in Kinofilmen vorkommen, in TV-Serien, in Büchern, erst wenn sie „ganz selbstverständlich“ überall präsent sind und einfach dabei, wenn ihre Namen nicht mehr fremd klingen, tritt Vertrautheit ein. „Dann sind wir besser in der Lage, Empathie zu empfinden“, sagt Schutz.

So wie im Video, als George Floyd der Welt neun Minuten und 29 Sekunden plötzlich ganz nah kam.

05 Nach dem Urteil

Am 21. Mai 2021 spricht im Dresdner Hochsicherheitssaal der Vorsitzende des Staatsschutzsenats, Hans Schlüter-Staats, das Urteil: Der 21-jährige Täter soll wegen Mordes, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung für den Rest seines Lebens ins Gefängnis. Das Gericht stellt zudem die besondere Schwere der Schuld fest und ordnet für den Fall der Fälle auch noch die Möglichkeit der anschließenden Sicherungsverwahrung an.

„Es ist eine Tat, die tatsächlich fassungslos macht“, sagt Schlüter-Staats. „Der Angeklagte handelte in radikalislamistischer Gesinnung in dem Bestreben, Repräsentanten einer von ihm abgelehnten freiheitlich demokratischen Gesellschaft zu töten.“ Er habe Oliver L. und Thomas L. „zu Opfern seiner tiefverwurzelten Homophobie“ gemacht.

Presseagenturen schicken nach dem Urteilsspruch ihre Texte über den Ticker, Medien veröffentlichen sie, mal länger, meistens eher kürzer. Große Wellen schlägt die Nachricht nicht.

Die „Vernetzung gegen Queerfeindlichkeit“, ein Zusammenschluss linker und queerer Gruppen in Dresden, kritisiert, dass das homofeindliche Motiv wochenlang von der Staatsanwaltschaft verschwiegen worden sei.

Die sächsische Opferbeauftragte Iris Kloppich fordert die Zivilgesellschaft auf, sich mit dem Verbrechen und seinen Ursachen auseinanderzusetzen und sich die Frage zu stellen, „wie sich derartige Straftaten zukünftig verhindern lassen“.

Oliver L. spürt weiter jeden Tag die tauben Stellen an seinem Körper, in die das Messer eindrang. Er befindet sich in psychologischer Behandlung. Sein Partner fehlt ihm.

Tobias Großekemper, Karsten Krogmann, Christoph Zempel

Nachtrag:
> Das Urteil „lebenslange Haftstrafe“ wegen der Messerattacke in Dresden ist inzwischen rechtskräftig.
> Im Prozess wegen Mordes an vier Menschen in einer Behinderteneinrichtung hat das Landgericht Potsdam die Täterin im Dezember 2021 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Richter legten zudem die Unterbringung der Pflegerin in einer psychiatrischen Klinik fest.